Leserbrief: „Warum Kernenergie nichts für die Energiewende beitragen kann“

Sehr geehrter Herr Peitzmeier,

noch einmal zur Kernenergie. Vielen gilt sie als CO2-freie und wetterunabhängige Rettung, die aber anscheinend von grünen Ideologen verhindert wird. Stimmt das?

Es gibt ca. 430 Kernkraftwerke (KKW) weltweit. Sie tragen zur Energieversorgung der Menschheit nur 2,5% bei[1]. Warum so wenig? Kernkraftwerke machen nur ein wenig elektrische Energie. Viel mehr Energie für Heizen, Industrie und Verkehr und die meiste Elektrizität werden durch Kohle/Öl/Erdgas bereitgestellt. Wollte man diesen 2,5%-Anteil auf (nur?) 25% steigern, würde das einen Neubau von ca. 4000 KKW weltweit  bedeuten.

Doch sie kämen zu spät. Der Bau (nicht die Planung!) des finnischen EPR in Olkiluoto (EPR ist die aktuelle und modernste KKW-Baureihe) wurde 2005 begonnen, gerade in diesem Monat April 2023 geht er in den Leistungsbetrieb, nach 18 Jahren Bauzeit.

Es gibt für so viele neue KKW keine Vorhaben, keine Standorte, keine Bereitschaft, keine Kerntechniker*innen.

Fragt man nach den aktuellen Uran-Vorräten, so erhält man die Angabe: die reichen noch 150 bis 200 Jahre – aber für 430 Kernkraftwerke[2]! Und für 4000 KKW? Und ja, tatsächlich enthält das Meerwasser Uran, 3µg/l, und damit also richtig viel, aber so dünn verteilt. Aktuell gibt es keine Bestrebungen, das großtechnisch zu gewinnen, weil zu teuer[3].

Kosten: 1. Der EPR in Olkiluoto kostet statt der vertraglich vereinbarten 3 Milliarden mehr als 12 Mrd. €.
2. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages stellt bei der Kernenergie die höchsten Stromerzeugungskosten fest[4].
3. Aber Frankreich? Frankreich ist – auch durch seine massiv subventionierte atomare Stromerzeugung – erheblich höher verschuldet als Deutschland[5].

Risiko: 4000 Kernkraftwerke bedeuten ein immenses Risiko, insbesondere mit nicht erprobter Technik (der finnische ist der erste EPR in Europa). Bei (nicht einmal) 400 Reaktoren hatten wir – grob gerechnet – alle 20 Jahre ein großes Unglück[6], was ergibt das hochgerechnet bei 4000 Stück?

Atommüll: Das ist ein ganz und gar ungelöstes Problem, die Endlagerfindungskommission will ein Gestein, das den Atommüll für eine Millionen Jahre sicher einschließt[7]. Eine Millionen Jahre, solange gibt es noch nicht einmal den Homo Sapiens[8]. Für angeblich günstige Energie (für wenige) maßt sich die heutige Menschheit (nur wenige) an, abertausenden folgender Generationen ein radioaktives Großproblem aufzubürden.

Der Atommüll aus KKWs bringt darüber hinaus das Proliferationsrisiko mit: alle Betreiber bekommen mit ihren KKW betriebsbedingt kernwaffenfähiges Plutonium an die Hand[9]. Wollen wir das?

Rückbau: 4000 KKW müssen am Ende aufwendig wieder rückgebaut werden – fast so teuer wie die Errichtung.

Innovation: Im Internet liest man von raffinierten neuen Reaktoren wie den Molten-Salt-Reactor, hoch effizient und kaum Atommüll – in der Theorie. Sie sind noch nicht einmal im Experiment-Stadium angekommen[10]. Oder schnell und auf dem Fließband herzustellende kleine Reaktor-Module. Es gibt sogar eine Handvoll davon, in China und Russland. Aber eine Fließbandproduktion aufzubauen dauert richtig lange. Auch sie kommen/kämen zu spät[11] und werfen dazu neue Sicherheitsfragen auf.

Die Kernfusion schließlich – kommt zu spät, wenn überhaupt. Der am weitesten entwickelte Experiment-Reaktor ITER in Südfrankreich wird nicht vor 2035[12] fertig sein.

Zusammengefasst: Die Kernenergie kann in den nächsten 10 bis 20 Jahren nicht die benötigte CO2-freie Energie liefern. Diese Entscheidung fiel schon vor Jahrzehnten.

Die erneuerbaren Energien haben das Zeug dazu, doch nur, wenn sie konsequent installiert werden. Leichter geht das, wenn wir ihnen entgegen kommen mit Sparen. Energie gar nicht erst brauchen. Rohstoffe gar nicht erst brauchen. Das hat Zukunft.

Dirk Stelter

[1]  International Energy Agency: Key World Energy Statistics 2021, S. 18, S. 34
https://www.iea.org/reports/key-world-energy-statistics-2021

[2]  Nuclear Energy Agency, (OECD): Uranium 2020: Resources, Production and Demand, S. 15
https://www.oecd-nea.org/jcms/pl_52718/uranium-2020-resources-production-and-demand

[3]Internationa Atomic Energy Agency: Analysis of Uranium Supply to 2050, Wien 2001; S. 76

[4] In diesem Text trägt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages Zahlen zu den Kosten des mit Kernenergie erzeugten Stroms zusammen: https://www.bundestag.de/resource/blob/877586/4e4dce913c3d883a81adcf2697313c7d/WD-5-090-21-pdf-data.pdf

[5] https://www.nzz.ch/die_kosten_von_frankreichs_atomstrom-ld.596585

[6] Windscale 1957, Harrisbug 1979, Tschernobyl 1986, Fukushima 2011 . Das sind die bekannteren, auf die sich die Zahl „20 Jahre“ bezieht. Es gab weit mehr Unfälle:  https://de.m.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Unfällen_in_kerntechnischen_Anlagen

[7] Bundesamt für Strahlenschutz: KONZEPTIONELLE UND SICHERHEITSTECHNISCHE FRAGEN DER ENDLAGERUNG RADIOAKTIVER ABFÄLLE, Braunschweig 2005; S. 38: „Bei der Endlagerung von hochradioaktiven Abfällen ist selbst nach geologischen Zeiträumen (> 1 Mio. Jahre) das Gefährdungspotenzial durch die langlebigen Radionuklide (insbesondere U-238) wegen der hohen Konzentration im Mittel noch höher als in natürlichen Lagerstätten. Auch nach 1.000.000 Jahren liegt die  von abgebrannten Brennelementen ausgehende Dosisleistung in 1 m Abstand von der Brennelementoberfläche noch im Bereich von 10-3 Sv/h bis 10-4 Sv/h Brennelemente oder Teile von ihnen stellen somit auch nach langen Zeiträumen ein nicht unerhebliches Gefahrenpotenzial dar, sofern diese aus dem tieferen Untergrund ganz oder teilweise wieder in die Biosphäre gelangen.“

 

[8] Daniel Richter u.a.: „The age of the hominin fossils from Jebel Irhoud, Morocco, and the origins of the Middle Stone Age.“ In: Nature. 546. Jahrgang, Nr. 7657, S. 293–296. Es sind 300.000 bis 350000 Jahre.

[9] Das Inventar eines KKW sind etwa 100t, die im Laufe von 3 bis 4 Jahre ersetzt werden (Brennelemente-Wechsel). Die folgende Darstellung bei wikipedia zeigt, dass knapp 1 Prozent des in KKW verwendeten Urans in Plutonium umgewandelt wird: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Wiederaufarbeitung?searchToken=6fi8c98xrpt6kxrcaww4dau4t#/media/Datei%3ABrennstab_1.png

[10] https://world-nuclear.org/information-library/current-and-future-generation/molten-salt-reactors.aspx: „The aim is to develop both the thorium fuel cycle and non-electrical applications in a 20-30 year timeframe.“

[11] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Small_Modular_Reactor#Prototypen: „Dabei gehen optimistische Schätzungen davon aus, dass 2035 knapp zehn Prozent aller neu gebauten Kernkraftwerke SMR sein werden.“

[12] https://www.iter.org/faq#collapsible_7 : A project-wide schedule updating exercise in 2015 resulted in a new calendar for ITER that was approved by the ITER Council through First Plasma (scheduled for December 2025*) and Deuterium-Tritium Operation (scheduled to begin in 2035).

 

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